Interview mit
Chiara Principe

Die Münzdesignerin Chiara Principe entwarf die Sondermünze «100 Jahre 100-Franken-Vreneli», die nächstes Jahr an der WMF erstmals präsentiert wird. Wie ist es, eine ikonische Münze anzufassen?

Das Vreneli ist eine ikonische Münze in der Schweiz. Eine solche Münze neu zu erfinden, ist eine ziemliche Herausforderung. Wie sind Sie vorgegangen?
Jedes Mal, wenn ich einen neuen Auftrag annehme, vor allem wenn es sich um einen Auftrag einer staatlichen Institution handelt, ist es für mich nicht nur ein Job, sondern vor allem eine grosse Ehre und eine grosse Herausforderung. Als Künstlerin und Münzliebhaberin kannte ich natürlich das Vreneli, aber ich hätte mir nie vorstellen können, dass ich eines Tages an einer Münze zu seinem Gedenken arbeiten würde. Zuerst vertiefe ich mich so weit wie möglich in die Münze selbst, ihren Ursprung, ihre Geschichte und ihre Schönheit. Ich war fasziniert von dem Künstler, der sie geschaffen hat, und von den interessanten Ereignissen im Zusammenhang mit dem Wettbewerb, die sie zur numismatischen Ikone der Schweiz werden liessen. Ich fühlte mich tief verbunden mit diesem faszinierenden und geheimnisvollen Vreneli, einem jungen Mädchen mit einfachen Gesichtszügen und Kleidern, umgeben von einer umhüllenden Landschaft, die sich als Helvetia par excellence entpuppt.

«Neben der Vertiefung der Kunst- und Kulturgeschichte und der Suche nach einer emotionalen Verbindung mit dem Abbild der Vreneli waren die Gespräche mit meinen Schweizer Freundinnen und Freunden sehr nützlich.»

Können Sie beschreiben, was das Vreneli im Allgemeinen und das «100 Jahre 100-Franken- Vreneli» im Besonderen für Sie bedeutet?
Das erste Mal sah ich ein Bild des Vrenelis, während ich Geschichte der Numismatik studierte. Die Münze beeindruckte mich vor allem wegen eines Aspekts, den ich kurz zu kontex-tualisieren versuche. Sie hat mit der Geschichte des Gold-Marengo zu tun, einer berühmten Münze, die seit 1815 für etwas mehr als ein Jahrhundert in Europa im Umlauf war.

Der Marengo war eine sehr wichtige Währung, denn er gilt als der erste wirkliche Versuch der europäischen Staaten, eine Währungsunion zu gründen, die damals Lateinische Währungsunion genannt wurde und an der auch die Schweiz beteiligt war. Die Staaten, die dieses Abkommen 1865 unterzeichneten (Frankreich, Italien, die Schweiz, Belgien und später Griechenland), verpflichteten sich, diese Münzen nach dem Franken-Germinal-System zu prägen, und alle Goldmünzen mit einem Nennwert von 20 Franken (einschliesslich der Vreneli) erhielten den Namen Gold-Marengos. (Anm. d. Red.: Der Goldfranken entsprach dem Franc germinal, welcher von Napoléon Bonaparte am 7. Germinal XI (28. März 1803) gesetzlich festgelegt wurde.) Jeder Marengo konnte mit anderen Marengos aus verschiedenen Staaten im Verhältnis 1 : 1 umgetauscht werden. Damit wurde er zu einer echten Kontinentalwährung und war der erste Versuch einer einheitlichen europäischen Währung. Was mir jedoch sofort ins Auge fiel, als ich die Abbildungen der fünf europäischen Gold-Marengos betrachtete, war Folgendes: Der Schweizer Marengo war die einzige Münze unter den fünf europäischen Marengos, die das Bildnis einer Frau auf sich trug ! Das hat mich sofort fasziniert: Was für ein Wunder, dachte ich ! So etwas wie «Wow, ich bin auch dabei !» Nicht das Profil eines Königs oder eines Herrschers, wie bei anderen Marengos, sondern ein junges, einfaches Mädchen, vor dem Hintergrund der Berge und mit wallendem Haar. Das Vreneli schien eine Währung von seltener Modernität zu sein, im Vergleich zu seinen «Gefährten», die alle einen historischen Kontext hatten.

 

«Die Münze zum 100-jährigen Bestehen des 100-Franken-Vrenelis steht für eine Nation, die fest in ihren historischen und kulturellen Werten verankert ist und die sich nicht scheut, aus diesen Werten heraus und unter ihrer eigenen Identität in die Zukunft zu blicken.»

 

 

Ich glaube, dass die Tatsache, dass die Feierlichkeiten zu dieser Münze einer Künstlerin anvertraut wurden, eine ganz bestimmte Bedeutung hat: Im Laufe der Jahrhunderte hat die Wahrnehmung der Frau in der Kultur und auch in der Kunst gewaltige Veränderungen erfahren, und heute ist sie mehr denn je ein zentrales und sehr heikles Thema, das mir sehr am Herzen liegt. Die Gelegenheit, den 100. Geburtstag des 100-Franken-Vrenelis zu feiern, hat für mich als Frau und Künstlerin einen grossen symbolischen Wert, und ich hoffe, dass sich jede Schweizerin als pulsierender Teil der Geschichte, der Kultur und des Lebens der Schweiz wertgeschätzt und gefeiert fühlt.

«Zuerst vertiefe ich mich so weit wie möglich in die Münze selbst, ihren Ursprung, ihre Geschichte und ihre Schönheit.»

Mehr über Chiara Principe
Chiara Principe  ist eine anerkannte italienische Künstlerin, Bildhauerin und Münzgestalterin aus Rom. Sie studierte Bildhauerei und anschliessend Münz- und Medaillenprägung an der berühmten Schule für Medaillenkunst, beides in ihrer Heimatstadt. Ihre Karriere begann, nachdem sie 2007 mit einem Projekt über die globale Erwärmung und das Kyoto-Protokoll in die Endrunde eines Designwettbewerbs der japanischen Münzanstalt einzog.

Seit 2013 arbeitet sie als freiberufliche Münzdesignerin für mehrere grosse internationale und private Münzprägeanstalten, und ihre Arbeiten sind auf den Münzen vieler Länder zu sehen. Ihre Entwürfe zelebrieren oft die weibliche Schönheit und beschäftigen sich mit Themen wie Frauen, Kindern, Familien und der Erde. Sie werden weithin für ihre Originalität, Dynamik, Vielseitigkeit und Extravaganz bewundert. Chiara ist besonders bekannt für ihre zahlreichen Münzen, Medaillen und Briefmarken für die Vatikanstadt und die Republik San Marino, die sie seit 2012 gestaltet.

Seit 2019 arbeitet sie auch für Powercoin (Italien). Ihre Serie «Evil Within» begann mit ihrem bahnbrechenden Stück «Pandora’s Box», das 2019 für die Republik Palau herausgegeben wurde. Sie hat auch Münzen mit düsteren Kindergeschichten wie «Hänsel und Gretel» und «Rotkäppchen» entworfen. Seit 2020 entwirft sie Designs für die East India Company in London, die für das britische Überseegebiet St. Helena ausgegeben werden. Dazu gehört eine neoklassizistische 2-Pfund-Platin-Jubiläumsmünze zu Ehren der verstorbenen Königin Elisabeth II. mit zwei eleganten Frauenfiguren. Es folgen ihre beiden Serien: Moderne Handelsdollars, inspiriert von den ursprünglichen Handelsdollars des 19. Jahrhunderts, und ihre Serie Lucky Angel, inspiriert vom französischen 20-Franc-Goldengel-Design des 14. Chefgraveurs der Pariser Münze, Augustin Dupré. Zu ihren jüngsten Arbeiten gehören ihre neueste Engel-Münze, zwei verschiedene 2-Euro-Münzen, die im Januar von Luxemburg ausgegeben wurden, sowie ein runder Barren zum Jahr des Drachen für Asahi Refining.

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