Franz Hohler in Erinnerung an Mani Matter

Als man mich einmal in die MRI-Röhre schob und ich eine Musik auswählen durfte, die mir über den Kopfhörer die Zeit verkürzen sollte, entschied ich mich für eine CD des Amerikaners Steve Reich. Nachdem mich der Betreuer des Vorgangs am Ende wieder herausgezogen hatte, sagte er, diese Musik habe noch nie jemand hören wollen. Was denn die Leute sonst gern hätten, fragte ich ihn, worauf er zur Antwort gab: «Mozart oder Mani Matter».

An einem Sonntagabend klickte ich am Fernsehen den Schluss des Schweizer «Tatorts» an, «Züri brännt», und nach ihren offenbar erfolgreichen Ermittlungen sang die Kommissarin für sich, und damit auch für das Publikum, «I han es Zündhölzli azündt».

Auf der Kulturseite der «NZZ am Sonntag» wurde jüngst das Zürcher Jazzfestival «Unerhört!» angekündigt, und zwar mit der Überschrift:

« ‹Kunscht isch gäng es Risiko›
sang schon Mani Matter.»

Nach der Matur belegte er zunächst ein Semester Germanistik an der Uni Bern, liess sich aber «durch Vorlesungen über Goethe etwas abschrecken» und entschloss sich für das Studium der Jurisprudenz. Sein Vater war Rechtsanwalt, spezialisiert auf Marken- und Patentrecht. Manis Interesse galt jedoch dem Staatsrecht. 1963 wurde er Assistent des Staatsrechtsprofessors Richard Bäumlin. 1965 schloss er sein Studium mit der Dissertation «Die Legitimation der Gemeinde zur staatsrechtlichen Beschwerde» ab. Sie zeigte auf, welche Möglichkeiten einer Gemeinde beim Bundesgericht offenstehen, um gegen kantonale Beschlüsse zu rekurrieren, und kritisierte die damalige Haltung des Bundesgerichts als zu wenig liberal. Es ging letztlich um das Recht des Kleineren gegen den Grösseren – der Gedanke an sein Chanson «Dr Hansjakobli und ds Babettli» liegt auf der Hand. Seine Dissertation erschien im Verlag Stämpfli in Bern und dürfte mit ihren 79 Seiten eine der kürzesten Dissertationen überhaupt sein.

1967 begab sich Mani Matter für ein Jahr nach Cambridge, um an seiner Habilitationsschrift zu arbeiten. Sie trug den Titel «Die pluralistische Staatstheorie» und stellte den Staat als ein Gebilde dar, das nicht in erster Linie durch Übereinstimmung geprägt ist, sondern nur durch Widerspruch verschiedener Meinungen lebendig bleibt. Zur Fertigstellung fehlten ihm, als er zurückkam, bloss noch die Fussnoten, die er nie geschrieben hat. Trotzdem bekam er 1970, jetzt als Oberassistent, einen Lehrauftrag für Staats- und Verwaltungsrecht an der Uni Bern. Wege zu einer Professur wären ihm durchaus offengestanden.

Im Januar 1969 hatte er einen befristeten Auftrag bei der Stadt Bern angenommen, wo man jemanden suchte, der in den städtischen Reglementenwirrwarr Ordnung brachte. Nachdem er diese Arbeit abgeschlossen hatte, wurde er zum festangestellten Rechtskonsulenten der Stadt ernannt.

Die Aussicht, ein ganz normales Leben als städtischer Beamter zu führen, erleichterte ihn, wie er in einem Brief an seinen Liedermacherfreund Fritz Widmer aus Cambridge schrieb. 1963 hatte er Joy Doebeli geheiratet, es waren drei Kinder zur Welt gekommen, und obwohl seine Frau ihre berufliche Tätigkeit als Englischlehrerin nie aufgegeben hatte, stellte sich ein Gefühl der Verantwortung für die Familie ein.

In einem Interview, das ich 1971 mit ihm führte, antwortete er auf meine Frage, ob er nicht Lust habe, hauptberuflich zu singen:

«Nein. Ich möchte nicht gern das Gefühl haben, ich müsste mich morgens um acht Uhr in mein Studierzimmer begeben, um meine Familie zu ernähren und zu diesem Zweck wieder Lieder zu schreiben. Ich bilde mir ein, dass die Lieder, die ich schreibe und die zu schreiben ich mir die Zeit irgendwie nehmen muss, dass das dann wirklich nur die sind, die, von mir aus gesehen, einem Bedürfnis entsprechen.»

Und neben all diesen Tätigkeiten widmete er sich immer wieder der Nebenbeschäftigung, deretwegen er heute ein Begriff ist, dem Schreiben von Chansons.

Klaus Schädelin hatte einige davon auf Tonband aufgenommen, und wer immer bei ihm vorbeikam, musste sie hören. Einer davon war Guido Schmezer, damals Chef der Abteilung Unterhaltung bei Radio Bern, der Mani daraufhin zu Aufnahmen ins Studio Bern einlud. Am 28. Februar 1960 war Mani Matters Stimme zum ersten Mal im Radio zu hören.

Chansons aus jener Zeit sind etwa «Dr Ferdinand isch gstorbe», «I han en Uhr erfunde», «D’Psyche vo der Frou», «Dr Herr Zehnder», «Dr Kolumbus», «Ds rote Hemmli», «Ds Eisi», «Dr Heini», «Ds Lotti schilet». Damit hatte er «es Zündhölzli azündt», dessen Flamme sich rasch weiterverbreitete.

Seine Lieder wurden zunächst in Programmen des Lehrercabarets «Schifertafele» gesungen, und es dauerte bis 1967, bis Mani Matter regelmässig selbst auftrat, zusammen mit Ruedi Krebs, Jacob Stickelberger, Bernhard Stirne-mann, Markus Traber und Fritz Widmer, für die Heinrich von Grünigen in einer enthusiastischen Besprechung im «Bund» den Sammelbegriff «Berner Troubadours» geprägt hatte.

Auch bei den Schriftstellern brachte der Gebrauch der gesprochenen Sprache frischen Gegenwartswind. Kurt Marti, der über Mani Matter einen Artikel in der «Weltwoche» geschrieben hatte, hatte den Dialekt bereits als Ausdrucksmittel entdeckt, andere wie Ernst Eggimann oder später Ernst Burren kamen dazu, Walter Vogt kreierte dafür das Stichwort «modern mundart».

1966 veröffentlichte der eben gegründete Zytglogge Verlag Manis erste Schallplatte, die zugleich die erste des Verlags war, «Berner Chansons von und mit Mani Matter» (später umgeändert in «I han en Uhr erfunde»). 1967 folgte seine zweite Platte, «Alls wo mir i d Finger chunnt». 1969 publizierte Egon Ammann in seinem «Kandelaber Verlag» das erste Chansonbändchen «Us emene lääre Gygechaschte», für das Mani im selben Jahr den Buchpreis der Stadt Bern erhielt. 1970 kam seine dritte Platte heraus, «Hemmige».

Inzwischen war Mani Matter längst zum Begriff geworden. Die Auftritte der «Berner Troubadours» waren überall in der Schweiz ein grosser Erfolg. Mani fand es bald fragwürdig, dass sie zu sechst im ganzen Land herumfuhren, wo doch jeder von ihnen ein Repertoire hatte, das weit über den 10-15-Minuten-Auftritt hinausreichte.

Seine Verse sind eine Einladung zur Einfachheit, kommen leicht und selbstverständlich daher, erwischen uns beim Vertraut-Alltäglichen, bei einer Eisenbahnfahrt («Ir Ysebahn»), beim Gang auf eine Amtsstelle («är isch vom Amt ufbotte gsy»), bei der Münzsuche vor einem Parkingmeter («Dr Parkingmeter»), und schicken uns dann in philosophische Labyrinthe. «Ir Ysebahn» etwa ist nicht nur ein komisches Lied, sondern auch ein Lied über die Möglichkeiten unserer Erkenntnis, über die schon Kant nachgedacht hat, und über das Konfliktpotential, das darin enthalten ist. «Dene wos guet geit» ist verkappte und verknappte Soziologie.

Er ist den Fremdwörtern nicht ausgewichen, hat etwa dem Anglizismus «Sändwich» ein ganzes Lied gewidmet, dessen Schlussvers vom Wort «Dialäktik» gekrönt wird, im Coiffeursalon hat ihn «es metaphysischs Grusle» gepackt, als er sich in den Spiegeln zu einem Männerchor vervielfältigt sah. Diese vorbehaltlose Offenheit gegenüber der Sprache, diese Nähe zum Leben liess seine Lieder bis heute nicht altern.

Was er mitausgelöst hat, nämlich eine Rückeroberung des Dialekts für das Dichten, Denken und Singen, war eine Identifikationshilfe für die schweizerdeutsch sprechenden Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, eine Möglichkeit, sich als zugehörig zu empfinden, ohne eine Nationalhymne singen zu müssen.

«Im’ne Sportflugzüg
sy zwee mal en
Alpeflug ga mache»

Mani Matter, Dr Alpeflug

 

In den späten Achtzigerjahren fingen «Züri West» an, auf jeder ihrer Platten ein Lied von Mani in einer Rock-Fassung einzuspielen. «Dynamit» klang, als sei es für sie geschrieben. Mühelos passen sich viele von Manis Liedern dem Rock-Rhythmus an, oder der Rock-Rhythmus passt sich ihnen an und lässt ihre anarchistische Seite stärker aufleuchten, oder auch ihre poetische, wie im «Heiwäg» oder in Stephan Eichers Version von «Hemmige».

Bei Stephan Eichers Konzerten in Frankreich sang das Publikum jeweils den Refrain von «Hemmige» mit. Als ich das im «Olympia» in Paris erlebte, sah ich in Gedanken Mani lächeln, mit der Maurice-Chevalier-Platte seines Onkels unter dem Arm.

Als die CD «Matter-Rock» entstand, wurde Manis «Warum syt dir so truurig?», das es nicht mehr von ihm selbst gesungen gibt, durch Polo Hofer interpretiert. Er sagte mir nachher, sie hätten lange gewerweisst, ob er «warum» auf der ersten Silbe betonen solle (so hatte es Mani noch auf seinem Manuskript notiert, als Lied im 3/4-Takt) oder auf der zweiten, als Auftakt zu einem 4/4-Takt, was er schliesslich vorzog, da es ihm besser lag. Das ist typisch für Manis Melodien, dass eben beides geht. Wichtig war ihm die natürliche Sprechweise.

Worauf ich nicht mehr eingehen kann, sind Mani Matters literarische Arbeiten, die nichts mit den Chansons zu tun hatten. Seine hochdeutschen Kurzgeschichten, Aphorismen, Einakter, Gedichte, philosophischen Betrachtungen und Tagebuchnotizen kamen erst nach seinem Tod heraus, in den Büchern «Sudelhefte» (Benziger, 1974) und «Rumpelbuch» (Benziger, 1976), deren Titel noch von ihm selbst stammten. Später kamen zwei weitere dazu, «Das Cambridge Notizheft» (Zytglogge, 2011) und «Was kann einer allein gegen Zen Buddhisten» (Zytglogge, 2016). Es sind Fundgruben voller Überraschungen, die von Manis intellektueller Brillanz, aber auch von der Neugier auf andere Formen zeugen.

Sein Libretto «Der Unfall», ein Madrigalspiel für 10 Mitwirkende, erzählt in der Ich-Form von einem, der überfahren wurde.

«Ich bin überfahren worden, weil ich unachtsam war. Unachtsam war ich, weil ich an etwas anderes dachte. Ich dachte daran, es sei schade, dass ich kein Musiker bin.»

 

Er schrieb den Text für seinen Freund, den Komponisten Jürg Wyttenbach, der mit der Vertonung schon ziemlich weit war, als Mani tödlich verunfallte. Danach war Wyttenbach nicht mehr in der Lage, mit der Komposition weiterzufahren. Er brauchte über 40 Jahre, um die
Arbeit daran wieder aufzunehmen, und das Stück wurde 2015 an den Luzerner Musikfest-wochen uraufgeführt.

Durch die Heiterkeit und den verspielten musikalischen und textlichen Witz des Werks leuchtet immer wieder die grosse Trauer über Mani Matters Tod, der vermutlich auf der Autobahn an etwas anderes gedacht hatte.

Text: Franz Hohler, Fotos: Matter & Co. Verlag

Weitere Beiträge